Auch die besten Daten sind ohne Kontext nichts wert: Ein Plädoyer für den richtigen Blick auf Zahlen

 

„In God we trust; all others must bring data” – dieses Zitat wird Edward Deming zugewiesen. Ist es wirklich immer gut, wenn jemand Daten liefert? Ich denke nicht, denn meist verwandelt erst der Kontext Daten in wertvolle Informationen – ohne ihn können sie leicht in die Irre führen.

 

Frau mit 39 auf ShirtSo las ich vor einigen Tagen auf LinkedIn einen Post einer „Expertin für mentale Frauengesundheit“: „42% der berufstätigen Frauen arbeiten trotz starker Schmerzen“. Dies seien die „erschreckenden Befunde der Women@Work-Studie von Deloitte“. Die Autorin nutzte dies als Aufmacher, um ihre Lesenden zum Posten anzuregen, was wir dafür tun könnten, um hier zu einem Umdenken zu kommen. Und was soll ich lange drum herumreden, bei mir tat die Zahl 42 sofort ihre Wirkung. Empörung breitete sich in mir aus. Ich wollte sofort liken und kommentieren.

 

Doch dann schaltete sich meine Impulskontrolle ein. Ich dachte nach. Und schaute mir zunächst die Studie genauer an. Dabei fiel mir postwendend auf, dass es sich nicht um 42%, sondern um 39% handelte. Ein erster Dämpfer für meine Empörung. Aber gut, 39% sind ja immer noch zu viel. Aber meine Empörung wandelte sich in Ratlosigkeit, als mir klar wurde, dass ich diese Zahl gar nicht bewerten konnte, weil mir jeglicher Kontext fehlte.

 

„39% der Frauen gehen auch mit Schmerzen zur Arbeit.“

 

Diese Zahl ist auf den ersten Blick alarmierend und könnte bei vielen Lesenden Besorgnis auslösen. Sie zeigt scheinbar auf, dass ein großer Teil der Frauen ihre Gesundheit aufs Spiel setzt, um ihren beruflichen Verpflichtungen nachzukommen. Doch was passiert, wenn wir diesen Datensatz in verschiedene Kontexte einbetten? Schauen wir uns vier Szenarien an (außer den 39% sind alle anderen Werte frei erfunden!):

 

1. Der Kontext der Zeit

 

Was passiert, wenn wir dieselbe Zahl in einen zeitlichen Kontext setzen?

„Vor fünf Jahren gaben 59% der Frauen an, auch mit Schmerzen zur Arbeit zu gehen. Heute sind es 39%.“

 

Diese Information löst vermutlich leichte Entspannung aus, da sie auf eine deutliche Abnahme des Problems in den letzten Jahren hinweist. Es könnte Fragen nach den Ursachen dieser Abnahme aufwerfen und Diskussionen darüber anregen, was sich in der Arbeitswelt schon verändert hat, um diesen Rückgang zu erklären. In diesem Kontext erscheint die Zahl plötzlich deutlich weniger alarmierend als im ersten Szenario.

 

2. Der geografische Kontext

Wie sieht es aus, wenn wir die Daten mit einer geografischen Perspektive beleuchten?

„In Deutschland gehen 39% der Frauen mit Schmerzen zur Arbeit. In Schweden sind es nur 20%.“

 

Nun wird der Vergleich zwischen zwei Ländern gezogen, was die Zahl in ein anderes Licht rückt. Während 39% in Deutschland besorgniserregend klingen, wirft der Vergleich mit Schweden die Frage auf, warum die Situation in Deutschland so viel schlechter ist. Dies könnte Empörung und das Gefühl hervorrufen, dass in Deutschland etwas schiefläuft, was in anderen Ländern besser gehandhabt wird. Der geografische Vergleich schafft Raum für Diskussionen über Arbeitsbedingungen und Gesundheitsversorgung in verschiedenen Ländern.

 

3. Der Kontext der Geschlechtervergleiche

 

Stellen wir uns vor, wir ergänzen die Information mit einer zweiten Zahl:

„39% der Frauen und 40% der Männer gehen auch mit Schmerzen zur Arbeit.“

 

Plötzlich verliert die ursprüngliche Zahl einiges von ihrer Schlagkraft. Wenn wir feststellen, dass der Anteil der Männer, die ebenfalls trotz Schmerzen arbeiten gehen, ähnlich hoch oder sogar höher ist, verschiebt sich die Wahrnehmung. Statt die Situation als ein spezifisches Problem für Frauen zu sehen, könnte es nun als allgemeines Problem der Arbeitswelt betrachtet werden, das beide Geschlechter gleichermaßen betrifft. Das Gefühl von Empörung wandelt sich in allgemeine Besorgnis.

 

4. Der demografische Kontext

 

Was, wenn wir die Zahl nach Altersgruppen aufschlüsseln?

„39% der Frauen insgesamt, aber 60% der Frauen über 50 Jahre gehen mit Schmerzen zur Arbeit.“

 

Plötzlich erscheint das Problem nicht mehr als generelles Frauenproblem, sondern als ein spezielles Problem älterer Arbeitnehmerinnen. Die Diskussion könnte sich jetzt auf die Herausforderungen des Älterwerdens im Beruf konzentrieren und darauf, welche Maßnahmen ergriffen werden könnten, um gerade ältere Frauen zu entlasten. Das Gefühl von Empörung verschiebt sich in Richtung des Verständnisses für die besondere Belastung dieser Altersgruppe.

 

Wir sehen, wie wichtig der Kontext ist, in dem sich eine Zahl bewegt. Gerade in unserer technisierten Welt sind Daten allgegenwärtig und sehr mächtig. Sie beeinflussen unsere Entscheidungen, formen unsere Meinungen und werden als Grundlage für persönliche, politische und wirtschaftliche Entscheidungen genutzt.

 

Wachstumskurve auf LaptopKontextualisierung von Daten in Unternehmen: Warum es entscheidend ist

 

Die Bedeutung des Kontexts für Daten ist nicht nur in der allgemeinen Informationsverarbeitung wichtig, sondern besonders in Unternehmen von großer Relevanz. Hier stützen sich Entscheidungen auf Key Performance Indicators (KPIs) und andere Metriken, die den Erfolg eines Unternehmens messen sollen. Doch auch die besten KPIs sind ohne den richtigen Kontext nur Zahlen und können zu völlig falschen Schlussfolgerungen führen, wenn sie isoliert betrachtet werden.

 

Beispiel: Umsatzwachstum als KPI

 

Betrachten wir das Umsatzwachstum als KPI, das in vielen Unternehmen als zentraler Indikator für Erfolg gilt. Angenommen, ein Unternehmen meldet ein Umsatzwachstum von 15% im letzten Quartal. Diese Zahl klingt auf den ersten Blick positiv und könnte als Zeichen für eine erfolgreiche Geschäftsstrategie gewertet werden. Doch ohne Kontext ist die Aussagekraft dieser Zahl stark eingeschränkt. Erst durch Vergleiche mit dem Marktumfeld, der zeitlichen Entwicklung, geografischer Unterschiede oder durch Berücksichtigung der Kosten kann das Umsatzwachstum bewertet werden.

 

Ein anderes Beispiel aus dem Bereich HR: Die Fluktuationsrate lag im letzten Jahr bei 18%

 

Diese Zahl kann auf den ersten Blick Besorgnis auslösen, denn das Unternehmen scheint das ernste Problem zu haben, dass fast ein Fünftel der Belegschaft das Unternehmen innerhalb eines Jahres verlassen hat. Doch wie bei jeder anderen Metrik, ist der Kontext entscheidend.

  • Daten im Branchenvergleich bewerten: Wenn die durchschnittliche Fluktuationsrate in der Branche bei 25% liegt, erscheinen 18% gar nicht mehr so besorgniserregend.
  • Altersstruktur der Belegschaft berücksichtigen: Wenn die Fluktuationsrate hauptsächlich auf den altersbedingten Ruhestand von Mitarbeitern zurückzuführen ist, hat dies ganz andere Implikationen, als wenn junge Talente das Unternehmen aus Unzufriedenheit verlassen.
  • Fluktuationsrate auf Abteilungsebene herunterbrechen: In der IT-Abteilung beträgt die Fluktuationsrate 30%, während sie im Vertrieb nur 10% beträgt.“ Eine hohe Fluktuation in der IT-Abteilung könnte z.B. auf spezifische Probleme in dieser Abteilung hinweisen.
  • Daten miteinander verknüpfen: Die Fluktuationsrate war in Abteilungen am höchsten, in denen die Mitarbeiterzufriedenheit laut Umfragen am niedrigsten war. Diese Verbindung könnte darauf hinweisen, dass Unzufriedenheit ein treibender Faktor für die Fluktuation ist.

 

Auch dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, Daten wie die Mitarbeiterfluktuation im richtigen Kontext zu betrachten. Eine isolierte Betrachtung der Fluktuationsrate könnte zu überstürzten oder falschen Schlussfolgerungen führen. Erst durch den Vergleich mit der Branche, die Analyse nach Abteilungen, die Berücksichtigung von Altersstrukturen und die Verknüpfung mit anderen Daten wie der Mitarbeiterzufriedenheit können Unternehmen die wahre Bedeutung hinter den Zahlen erkennen.

 

Fazit: Daten im Kontext – der Schlüssel zu fundierten Entscheidungen

Daten sind wertvolle Werkzeuge, um Sachverhalte zu bewerten, Erfolge zu messen und Entscheidungen zu treffen. Doch ohne den richtigen Kontext können sie leicht fehlinterpretiert werden zu Entscheidungen führen, die auf einer verzerrten Wahrnehmung basieren.

 

Was würde uns Daniel Kahneman zur Datenanalyse wohl raten, der Nobelpreisträger und Autor von „Thinking, Fast and Slow“? Er würde uns wohl empfehlen, unsere Datenanalyse durch langsames, methodisches Denken zu steuern, stets die Möglichkeit von Verzerrungen zu berücksichtigen und gründlich zu reflektieren, bevor wir zu einem Schluss kommen.

 

Und das kann uns dabei helfen:

    • Daten in ihrer zeitlichen Entwicklung anschauen
    • Rauszoomen vom Kleinen ins Große (z.B. Branchenvergleich)
    • Reinzoomen, also Daten runterbrechen (z.B. wie hoch ist die Fluktuation in unterschiedlichen Abteilungen)
    • Datenvergleiche mit anderen Gruppen (Frauen und Männer vergleichen, die mit Schmerzen zur Arbeit gehen)
    • Die Daten mal umkehren und schauen, welche Informationen sich daraus ergeben
    • Cross-check/Plausibilitätscheck bei Unternehmensdaten (Kann das überhaupt sein? Unter welchen Umständen kann das sein? Oder missinterpretiere ich die Daten, weil ich eine andere Bemessungsgrundlage vermute, also z.B. Brutto- mit Nettowerten vergleiche)
    • Abgleich mit den Zielwerten – was wäre denn eine „adäquate“ Zahl an Personen, die mit Schmerzen zur Arbeit gehen? 0 Prozent? Oder haben wir dann zu viel Last auf denjenigen, die es auffangen müssen?
    • Konsequenzen durchdenken: Was wäre, wenn es eine andere Zahl wäre?

Wenn wir nach diesen Tipps arbeiten, können wir fundiertere und nachhaltigere Entscheidungen treffen. Wir verstehen dann, dass eine isolierte Zahl oft nur einen kleinen Teil der Wahrheit zeigt, und suchen aktiv nach den Geschichten, die hinter den Zahlen stehen. So können wir Fehlinformationen reduzieren, Risiken minimieren und bessere Entscheidungen treffen. Und vielleicht über die Empörung, die uns beim nächsten reißerischen kontextfreien LinkedIn-Post in Sekundenschnelle mitreißt, zumindest mal lachen…

 

Autorin: Sabine Olavarria