Selbstverständlich wurden in der bisherigen digitalen Transformation Fehler gemacht. Nun aber kommt bereits die zweite Welle der digitalen Transformation: Die Transformation hin zur „Augmented Intelligence“, in der Menschen im Zusammenspiel mit KI Erstaunliches leisten werden und durch die Unternehmen erneut durchgerüttelt werden. Wer künftig noch mitspielen möchte, sollte diese Transformation richtig angehen.
Die erste Welle der digitalen Transformation war groß und kräftig: Unternehmen setzen mittlerweile mehr als 200 verschiedene Applikationen ein, die einzelnen Abteilungen zumeist zwischen 40 und 60¹. Diese Welle hat Vieles hervorgebracht, leider nicht nur Gutes: Die Mitarbeitenden in Unternehmen wechseln im Durchschnitt sagenhafte 1.200-mal am Tag zwischen verschiedenen Apps. Der Kontextwechsel kostet pro Woche und Mitarbeitendem vier Stunden Arbeitszeit, was neun Prozent der Jahresarbeitszeit entspricht². Und sie verleitet zum aussichtslosen Versuch, Multitasking zu betreiben.
Die Ablenkung durch Mails und Nachrichten führt zu einer IQ-Reduktion von zehn Punkten – was dem Effekt einer schlaflosen Nacht entspricht und ein doppelt so großer Effekt wie der Konsum von Cannabis ist³. Wir merken: Unser Gehirn ist nicht auf die aktuellen technologischen Entwicklungen vorbereitet und wo Technologie auf den menschlichen Geist trifft, erfolgt nicht zwangsläufig ein Fortschritt. Eigentlich wäre es nun an der Zeit, diese unerwünschten Nebenwirkungen der bisherigen Digitalisierung zu minimieren und deren positive Effekte auszuschöpfen. Aber nun kommt KI um die Ecke gerauscht und treibt die zweite Welle der Digitalisierung an.
Klar ist, dass KI nicht „das nächste Tool“ ist. KI ist eine disruptive Basistechnologie, nicht nur für die Medienbranche, sondern auch für deren Kunden. Mit KI hält ein neues Paradigma Einzug: Weg vom bisherigen „Du musst dem Tool einen konkreten und exakten Befehl geben“, hin zu „Nenne mir deinen Wunsch“. Sie verleiht uns neue, leicht einsetzbare „Superkräfte“ mit Verheißungen wie …
Gleichzeitig gilt: Je besser die KI-Tools werden, desto mehr entwerten sie durch Menschen mühsam angeeignete Fähigkeiten und Kompetenzen. Und je stärker KI-Fähigkeiten in bestehende Systeme integriert werden, desto mehr Möglichkeiten zur Neugestaltung von Angeboten, Services und Prozessen bieten sie. KI steigert also nicht nur die Produktivität hinsichtlich einzelner Aktivitäten, sondern entlang ganzer Prozesse und Wertschöpfungsketten. Auch durchbricht sie informelle Vereinbarungen, wie Arbeit und Unternehmen funktionieren sollten. Zum Beispiel die Konvention, dass wir längerer Zugehörigkeit von Mitarbeitenden sowie Kompetenz und Leistung Vorrang einräumen sollten. Dies wird künftig in vielen Fällen keine sachliche Grundlage mehr haben, denn Mitarbeitende mit guten KI-Fähigkeiten werden schnell bessere Ergebnisse erzielen als hoch spezialisierte Fachkräfte ohne KI-Fähigkeiten. Es wird immer mehr darauf ankommen, die „General Purpose“-Technologie der Künstlichen Intelligenz geschickt mit der menschlichen Intelligenz zu einer „augmentierten Intelligenz“ zu kombinieren.
Weiterhin trifft KI auf in weiten Teilen eher schlecht organisierte Mensch-Technologie-Gebilde, siehe die einleitenden Zahlen zur Systemnutzung in Unternehmen. Wir müssen folglich ein neues Mensch-Technologie-Gleichgewicht finden, was uns sicher noch lange beschäftigen wird. Eben eine echte Transformation, nicht nur ein „Change“.
Man könnte sicher lange streiten, wo „Change“ endet, und wo „Transformation“ beginnt. Daher mache ich es mir einfach und definiere Transformation wie folgt: Eine Transformation löst in weiten Teilen des Unternehmens Veränderungen aus und erfordert ein Umdenken bei der Mehrheit der Organisationsmitglieder – also bei Führungskräften und Mitarbeitenden. Aber nun ist auch schon Ende mit einfach. Denn nur in 12 Prozent aller Transformationsvorhaben werden die Ziele erreicht4. Das ist vor dem Hintergrund der Transformation durch KI eine verdammt schlechte Nachricht. Denn wer diese Basistechnologie schlechter als der Wettbewerb einsetzt, wird verlieren. Punkt. Daher lassen Sie uns einen Blick darauf werfen, was das Management tun und leisten muss.
Die zweite Welle der Digitalisierung auf Basis von KI-Anwendungen baut sich schon seit langem auf. Aktuell sind wir in einer Phase, in der in Nischen langjährige Erfahrungen vorliegen, und in der Breite mit einzelnen Anwendungsfällen experimentiert wird sowie erste Optimierungen entlang von Prozessen erfolgen.
In dieser Phase geht es darum, mit den Innovatoren im eigenen Haus, den eigenen Systemanbietern sowie weiteren externen Impulsgebern die Möglichkeiten auszuloten und zu testen. Viele strategische, technische und organisatorische Fragen müssen geklärt werden, nachfolgend ein Ausschnitt hieraus:
Die erste digitale Transformation war in recht vielen Branchen eher ein „Transformiert-werden“ als ein „Die Transformation gestalten“. Viele Häuser waren lange im Beobachter- und Bewahrer-Modus – die Erlöse sollten gehalten, Kannibalisierung vermieden werden. Ich denke, dass dies mit Blick auf die zweite Digitalisierungswelle durch KI kein geeignetes Vorgehen ist: Die Entwicklungen sind zu schnell, die Auswirkungen und das Risiko, abgehangen zu werden, zu groß. Daher sollte eine Weisheit aus der ersten digitalen Transformation im Fokus stehen:
Das Wichtigste ist das Umdenken!
Das Loslassen alter, vermeintlicher Regeln und Gewissheiten. Das sich Einlassen und die Neugier auf neue Möglichkeiten. Das aktive Leben der eigenen Rolle als FÜHRUNGskraft – in die Führung zu gehen, beständig echtes Leadership zu leben.
Denn für die Mitarbeitenden sind die aktuellen Entwicklungen zwiespältig. Da ist auf der einen Seite die ambivalente Freude, wenn man mit Hilfe von KI eigene Aufgaben in einem Bruchteil der Zeit erledigen kann. Eine Ambivalenz, die aus der gefühlten Magie der Leistung der Maschine entspringt – wie kann es sein, dass eine Software so schnell diese komplexe Aufgabe meistert? Aber auch aus den zum Teil noch hochgradig naiven Fehlern, die hierbei auftreten. Und natürlich auch aus der Ungewissheit, wenn man sich die Zukunft vorstellt: Werde ich überhaupt noch gebraucht? Und es ist diese Ungewissheit, die Menschen wohl am schlechtesten ertragen.
Wie gestalten wir also die vielen Veränderungen, die in Summe die gewünschte und im Wettbewerb erforderliche Transformation bringen? Die erste Schlüsselfrage für eine erfolgreiche Transformation ist:
Wie gut verstehen wir das alles bereits?
Diskutieren Sie gemeinsam, was Sie aus Ihrer bisherigen Beschäftigung mit dem Thema und Ihren Experimenten gelernt haben und entwickeln Sie Ihre Unternehmensstrategie auf dieser Basis fort. Wenn Sie dies bereits mit einer überschaubaren Anzahl von Lücken tun können (bloß keine Perfektion anstreben, hierfür entwickeln sich die Dinge viel zu schnell!), erarbeiten Sie Ihre Strategie und Vision als Unternehmen in Zeiten der Augmented Intelligence, dem produktiven Zusammenwirken von menschlicher und künstlicher Intelligenz.
Hierbei hilft Ihnen die Betrachtung von relevanten Szenarien der Arbeit im Augmented-Intelligence-Setting. Stellen Sie sich die künftigen Arbeitsweisen möglichst konkret vor: Die KI-Tools sind mit den Unternehmens- und weiteren Daten versorgt, sie vernetzen diese also. So werden die Mitarbeitenden mit weit mehr als den heutigen Daten versorgt, sie und Kollegin KI können aus den vernetzten Daten das erforderliche Kontextwissen ziehen und weit mehr Entscheidungen treffen als heute. Die Mitarbeitenden können weiterhin ihre Entscheidungen in durch die Kollegin KI bereitgestellten, datenbasierten Reflexionsräumen prüfen. Und dies durch einen einfachen Prompt wie: „Wie würde unsere Zielgruppe XY auf diesen Aufmacher reagieren? Prüfe dies mittels Eye-Tracking und auch inhaltlich: Was würde diese Zielgruppe spannend finden, was eher nicht? Welche Lesedauer und Engagement Rate sagst du voraus?“
Dann verfolgt die KI die Auswirkungen der getroffenen Entscheidungen, benchmarkt die Performance mit anderen Mitarbeitenden und diskutiert ihre Erkenntnisse mit den einzelnen Mitarbeitenden. So erreichen die Mitarbeitenden über alle Funktionsbereiche ein Arbeitstempo, das eine Interaktion mit Führungskräften nicht mehr wirtschaftlich vertretbar zulässt. Zudem wird auch die KI eigenständig Entscheidungen treffen. Was uns zur zweiten Schlüsselfrage führt:
Wer führt diese neue Kollegin mit dem Kürzel KI?
Auch hierzu sind Zukunftsszenarien zu betrachten und Weichen zu stellen, wahrscheinlich brauchen Führungskräfte künftig weitere Kompetenzen, die gezielt entwickelt werden müssen. Denn Mensch und Technologie können nunmehr voneinander lernen, dynamisch zusammenarbeiten und so werden neue Ansätze auch der kontinuierlichen Verbesserung möglich. Daher braucht es Klarheit im Hinblick auf Themen wie Verantwortlichkeiten und Rechenschaftspflichten, das Verfahren bei Fehlentwicklungen und eben zum Vorgehen zur kontinuierlichen Optimierung, wie zum Beispiel:
Und sobald wir eine Vorstellung entwickelt haben, wie wir das dynamische Zusammenwirken von Menschen und Technologie gestalten und in unsere Führungsarbeit integrieren werden, können wir uns der dritten Schlüsselfrage für eine erfolgreiche KI-Transformation zuwenden:
Wie gut sind wir eigentlich mit Blick auf wichtige Basiskompetenzen?
Mit dieser Frage prüfen Sie Ihr Fitness-Level im Hinblick auf die Grundlagen für erfolgreiche Unternehmen in Zeiten der Digitalisierung:
Denn bei aller Begeisterung für Neues: Ohne eine solide Basis wird das nichts, diese müssen Sie ggf. in einigen Bereichen erst schaffen.
Und wir sollten das Bonmot „Culture eats Strategy for Breakfast” nicht vergessen und uns fragen: Welches sind die unsere Unternehmenskultur prägenden Denk- und Verhaltensmuster? Nachdem die erste Digitalisierungswelle lange oftmals eher mit angezogener Handbremse geritten wurde, sollte man hier ehrlich mit sich sein, so etwas wirkt lange nach …
Aber weiter zur vierten Schlüsselfrage:
Wie starten wir in den eigentlichen Transformationsprozess?
Der Transformationsprozess wird Jahre dauern und muss dynamisch gedacht und gestaltet sein. Mit einem guten Start fällt dies leichter. Daher hier die wichtigsten ersten Schritte:
1 | Commitment im Führungsteam schaffen, gemeinsam die strategischen Stoßrichtungen und eine Transformationsvision erarbeiten
Auch wenn es (noch) nicht gelingt, eine vollumfängliche Unternehmens-Augmented-Intelligence-Strategie zu erarbeiten: Das strategische Rational sollte besprochen und abgestimmt sein. Dies kann z.B. die folgenden Fragen umfassen:
So kann eine Transformationsvision erarbeitet werden, die prägnant beschreibt: Was sind wir heute, was werden wir künftig sein? Wären Sie eine Raupe, würden Sie sicher auch gern wissen, was Sie sein werden, wenn Sie den Kokon wieder verlassen. Eine größere Raupe? Eine schnellere Raupe? Ein Nachtfalter? Oder ein Schmetterling?
2 | Den normativen Rahmen setzen
Hier geht es u.a. um Ihre Grundhaltung gegenüber der KI, aber auch um die angestrebte Haltung der KI als „neue Kollegin“:
3 | Die Erfolgsfaktoren für gelingende Transformation vergegenwärtigen
Gerade die KI-Transformation muss als kontinuierlicher Prozess verstanden und entsprechend gestaltet werden. Transformationsaktivitäten sollten also nicht als Silo aufgesetzt, sondern in das tägliche Handeln von Führungskräften integriert werden. Nur so schaffen Sie die erforderliche Veränderungsaufmerksamkeit, -energie und -kommunikation. Die wichtigsten Botschaften müssen immer wieder auf neue Art und Weise und in Bezug zu den verschiedensten Prozessen und Aktivitäten vermittelt und diskutiert werden.
4 | Die Transformation auf eine breite Basis stellen
Transformation kann nicht an ein Team delegiert werden. Prüfen Sie daher, wie Sie die Transformation „aus der Mitte heraus“ treiben können. Das mittlere Management als Scharnier zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitenden spielt wie so oft eine entscheidende Rolle. Bauen Sie daher von Anbeginn hierarchieübergreifende „Guiding Coalitions“ auf, die das mittlere Management bei seiner schwierigen Aufgabe unterstützen und herausfordern, aber auch Halt geben. Die Guiding Coalitions sollten sich zu KI-Communitys weiterentwickeln, die sich auf verschiedene Aspekte der Transformation fokussieren. Denn zu viel Veränderung auf einmal bei denselben Personen und Teams führt nur selten zum Erfolg.
Mit diesen Schritten legen Sie eine solide Basis für das vor Ihnen liegende Abenteuer. Mir ist bewusst, dass solche grundlegenden Fragen gern ausgelassen werden. Man möchte schnell ins Handeln kommen und beweisen, dass man zu diesem wichtigen Thema bereits unterwegs ist und erste Erfolge erzielen. Letzteres ist unbestritten in jeder Veränderung wichtig – aber es geht hier nicht um ein entweder dieses oder jenes. Es geht nicht darum, schnell erste und dann weitere Projekte zu starten ODER eine systematische Transformation aufzusetzen. Es ist ein sowohl als auch.
Und wenn Sie jetzt hiermit noch ein wenig fremdeln, abschließend noch eine letzte Schlüsselfrage, auch wenn ich mich wiederhole:
Wie schaffen wir ein neues Mindset, wie schaffen wir es gemeinsam den bisherigen Denk- und Handlungsrahmen zu sprengen?
Fordern Sie sich immer wieder gegenseitig dazu heraus, die Dinge neu zu betrachten, in Chancen zu denken, bisherige mentale Grenzen niederzureißen. Und andere darin zu bestätigen und zu bekräftigen. Denn das ist Leadership und Leadership ist aktuell so wichtig wie noch nie …
Dieser Text ist auch im BDZV Jahresreport 2024 erschienen, den Sie hier bestellen können.
Autor: Marco Olavarria
Quellen: