Auf der Flucht vor der Führungskraft? Ein Plädoyer für Investition in gute Führung.

 

Schild FluchtwegEin Leben lang bei derselben Firma arbeiten? Was früher ganz normal war, ist heute für viele undenkbar. Laut einer repräsentativen forsa-Studie, die für XING im Januar 2022 durchgeführt wurde, denken 37 Prozent der Befragten über einen Jobwechsel nach. Dies ist ein Plus von 4 Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr. In der Altersklasse der 30- bis 39-jährigen hegt sogar fast die Hälfte Wechselgedanken.

 

Gefragt nach den Gründen nennen 42 Prozent ein höheres Gehalt. Bei den „bis 29-jährigen“ sind es hier gar 79 Prozent. Es folgt „Unzufriedenheit mit der Geschäftsführung“ (38 Prozent) oder der „direkten Führungskraft“ (30 Prozent) und „Interesse an einer anderen Tätigkeit“ (31 Prozent). Ein Viertel (26 Prozent) vermisst „Sinnhaftigkeit“ im Job. [1]

 

Sehr oft liegt der Grund für Wechselgedanken der Mitarbeitenden also in der Unzufriedenheit mit der Geschäftsführung und/oder den direkten Vorgesetzen. In dieselbe Kerbe schlägt folgende Zahl: Zwei von drei Befragten geben an, sie hätten schon mindestens einmal im Arbeitsleben eine schlechte Führungskraft gehabt. [2]

 

Doch warum beschäftigen sich angesichts dieses dramatisch schlechten Zeugnisses von Führung nur so wenige Unternehmen konsequent mit diesem Problem? Warum meckern so viele immer nur hinter vorgehaltener Hand? Vielleicht, weil stolze 97 Prozent der Führungskräfte glauben, sie machen einen guten Job (Gallup Engagement Index 2017 [3]). Selbst- und Fremdbild scheinen sehr weit voneinander entfernt zu sein.

 

HR betreibt einen immer größeren (und teureren) Aufwand, um neue Mitarbeitende zu gewinnen. Mit Goodies wie E-Bikes, Mitgliedschaften im Fitnessstudio, Geldprämien, Teilzeit, Vier-Tage-Woche uvm. werden neue Talente geködert (siehe unser Artikel „Check mal dein Verwöhnportfolio“). Und nach diesem anfänglichen Wellness-Programm sind die Mitarbeitenden mit Führungskräften konfrontiert, die sich so verhalten, dass sie Anlass für Kündigungsgedanken sind. Bevor wir bei hohen Verlustquoten noch mehr Geld in die Mitarbeitergewinnung stecken, sollten wir vielleicht unsere Hausaufgaben machen und in gute Führung investieren.

 

Auf welche Weise können wir Mitarbeitende an unser Unternehmen binden? Hinweise darauf liefert uns die von Edward Deci und Richard Ryan entwickelte Selbstbestimmungstheorie aus dem Jahre 2008 [4]. Nach dieser gibt es in uns allen stets vorhandene psychologische Grundbedürfnisse, deren Befriedigung für effektives Verhalten und psychische Gesundheit von grundlegender Bedeutung sind: Kompetenz, Autonomie und soziale Eingebundenheit. Wir wollen uns kompetent fühlen, in dem was wir tun. Das heißt, wir wollen die Möglichkeit haben, selbst auf Dinge einzuwirken und wir wollen erwünschte Ergebnisse erzielen. „Autonomie“ bezeichnet das Gefühl der Freiwilligkeit unseres Handelns. Dies kann durchaus auch weisungsgebundenes Handeln umfassen – von diesem wollen wir aber überzeugt sein. Und wir wollen uns sozial in ein System eingebunden fühlen. Wir wollen einerseits selbst wertvoll für das System sein und dieses umgekehrt auch als wertvoll empfinden können. Diese drei Erkenntnisse können Führungskräfte zur Maxime ihres Handelns machen. Damit motivieren, fördern und binden sie ihre Mitarbeitenden an das Unternehmen.

 

Die ehrliche Auseinandersetzung mit den folgenden Fragen kann Ihnen Inspiration liefern, um das Thema Führung mit neuen Augen zu sehen:

 

1. Fühlen sich Mitarbeitende (und Führungskräfte) kompetent genug, um ihre Rollen ausfüllen zu können?

„Kompetenz“ ist nach der Selbstbestimmungstheorie ein Grundbedürfnis. Kompetenz hat dabei mehrere Dimensionen. Zunächst wollen wir uns kompetent darin fühlen, was wir tun. Dies bedeutet, dass wir mit dem notwendigen Wissen ausgestattet sind, um die in uns gesetzten Erwartungen erfüllen zu können. Und dieses Wissen muss aktuell gehalten werden. Aus- und Fortbildung sind wichtige Faktoren im Unternehmen und vor allen Dingen auch in den einzelnen Teams. Lernen und Weiterentwickeln sollte in den Alltag der Teams integriert sein. Eine andere Dimension der Kompetenz ist die Ausstattung mit denjenigen Entscheidungsbefugnissen, die für meine Tätigkeit wichtig sind. Bündeln sich Wissen – Entscheidung – Verantwortung beim Mitarbeitenden, so resultiert daraus ein Gefühl der Kompetenz.

 

2. Wissen alle Führungskräfte im Unternehmen, was sie tun müssen, um ihrer Rolle gerecht zu werden?

Kompetenz spiegelt sich auch in der Klarheit über die eigene Rolle wider. Jede Führungsrolle im Unternehmen sollte vollkommen klar sein. Mit einer Rollenbeschreibung werden Verantwortlichkeiten, Rechte und Pflichten einer Führungskraft transparent. Eine Verantwortlichkeit kann zum Beispiel „fachliche Weiterentwicklung der Mitarbeitenden“ sein. Als einsetzbare Rechte werden „Weiterbildungsprioritäten festlegen“ oder „Budgetfreigabe bis x Euro“ definiert. Die damit zusammenhängenden „Pflichten“ können „Sicherstellen einer fortlaufenden Verbesserung der Expertise“ oder auch die „Budgetüberwachung“ sein. Mit einer umfassenden Rollenbeschreibung ergibt sich ein Verständnis des gesamten Aufgabenbereiches und jede Führungskraft weiß, in welchem Rahmen sie sich bewegen kann und soll. Auch das Team kennt diese Rollenbeschreibung. Eine Einführung ins Thema Rollen finden Sie hier (https://www.humanresourcesmanager.de/future-of-work/rollen-statt-stellen-die-arbeitswelt-der-zukunft/)

 

3. Würdigen Sie Führung ausreichend als wichtiges Instrument der Mitarbeiterzufriedenheit?

Ein Kompetenzempfinden in Sachen Führung ergibt sich auch aus der unternehmensweiten Haltung gegenüber diesem Thema. Haben Sie über das gesamte Unternehmen hinweg die ehrliche Grundhaltung, dass gute Führung eine immense Bedeutung für das Unternehmen hat? Dass sie eine sehr anspruchsvolle, zeitintensive und schwierige Tätigkeit ist? Niemand kann ohne entsprechende Zeit, Haltung, Aus- und Fortbildung eine gute Führungspersönlichkeit sein. Unternehmen sind es ihren Mitarbeitenden schuldig, bei der Auswahl der Führungskräfte wählerisch zu sein. Und sie sind es ihren Führungskräften schuldig, sie bestmöglich in ihrer herausfordernden Rolle zu unterstützen.

 

4. Betreiben Sie ein gezieltes Erwartungsmanagement in puncto Führung?

Durch die transparente Rollenbeschreibung und die Würdigung des Themas Führung justieren die Teammitglieder ihre Erwartungen an die Führungskraft bereits grob. Doch darüber hinaus hat jeder und jede Mitarbeitende ihre ganz persönlichen (und selten offen artikulierten) Erwartungen an ihre Führungskraft – vom Wunsch nach intensiver Zusammenarbeit und Anerkennung bis hin zum Wunsch möglichst ungestört seinen Job machen zu dürfen. Die einzige Möglichkeit, Enttäuschungen, Kränkungen und letztlich Unzufriedenheit zu vermeiden, liegt in einer möglichst offenen Kommunikation und einer gemeinsamen Reflexion. Denn so können Sie Erwartungen auf eine realistische Basis stellen. Eine geeignete Methode hierfür ist der „Markt der Erwartungen“ (https://www.beraterkreis.at/wp-content/uploads/2016/03/Marktplatz-der-Erwartungen-1.pdf)

 

5. Führen Sie ihr Team selbstbestimmungsorientiert?

„Autonomie“ ist ein weiteres Grundbedürfnis der Selbstbestimmungstheorie. Auch sie ist im Hinblick auf gute Führung äußerst interessant, denn Führungskräfte können sie direkt beeinflussen. Bei der Autonomie geht es darum, selbst zu entscheiden und Freiwilligkeit zu erleben. Damit kann man sich im Rahmen der eigenen Wertvorstellungen bewegen. Auch weisungsgebundene Entscheidungen werden dabei als „eigene Entscheidung“ interpretiert, solange die Mitarbeitenden hinter den Weisungen stehen können. Ist dies nicht der Fall, wird es unangenehm: Mitarbeitende, die auf Dauer nicht das Gefühl haben, die eigenen Werte leben zu können, entziehen der Führungskraft irgendwann die Legitimation, sie zu führen. Die Etablierung einer selbstorientierten Arbeitsweise mit möglichst vielfältigen Entscheidungsspielräumen für die Mitarbeitenden sollte also bei jeder Führungskraft ganz oben auf der Todo-Liste stehen.

 

6. Führt das Management in Ihrem Hause berechenbar?

Sind die Führungsrolle geklärt, die Erwartungen ausgehandelt und das Team selbstbestimmt aufgestellt, geht es daran, die Theorie in die Praxis zu übersetzen. Eine Führungskraft sollte sich unbedingt am gesetzten Rahmen orientieren, denn damit wird sie in der Zusammenarbeit für die Mitarbeitenden berechenbarer. Und das ist äußerst wichtig für die Mitarbeitenden, es schafft Sicherheit und Vertrauen.

 

7. Sorgen Sie dafür, dass sich ihre Mitarbeitenden sozial in das Unternehmen eingebunden fühlen können?

Der Wunsch nach sozialer Einbindung in ein System ist der dritte wesentliche Faktor der oben genannten Selbstbestimmungstheorie. Dieses Gefühl hat mindestens zwei Dimensionen. Zum einen möchten wir uns wertstiftend für die Gruppe (und damit für das gesamte Unternehmen) erleben, für die wir tätig sind. Wir streben danach, ein wichtiger Teil des Systems zu sein. Ein Faktor, der einen Unterschied macht. Führungskräfte können dieses Bedürfnis durch (echtes) Lob und Anerkennung stützen. Und Methoden wie zum Beispiel wohlwollende Team-Feedbackrunden etablieren, die auf das Bedürfnis nach Wertschätzung einzahlen. Auf der anderen Seite möchten wir das Unternehmen, für das wir arbeiten, als wertvoll empfinden können. Wir wollen stolz auf unser Team sein und auf unser Unternehmen.

 

8. Sollte eigentlich ganz am Anfang stehen: Sorgen Sie für gute Prozesse?

Egal, wie gut eine Führungskraft führt, sie muss sich immer am schlechtesten Prozess in ihrem Verantwortungsbereich messen lassen. Andersherum gedacht: Gut organisierte Prozesse in einem Team bilden die Basis für die Zufriedenheit mit der gesamten Führungsmannschaft. Denn die Bereitstellung guter Prozesse ist und bleibt nun einmal originäre Managementaufgabe.

 

Diese acht Punkte sind nur ein Anfang. Vielleicht sind sie auch in Ihrem Hause der Anfang für eine Diskussion rund um das Thema Führung. Sprechen Sie uns gern an, wenn Sie das Thema in Ihrem Hause angehen wollen. Wir würden uns freuen.

 

 

Links zu den Quellen:
1) https://www.new-work.se/de/newsroom/pressemitteilungen/2022-xing-studie-jeder-vierte-kuendigt-job-ohne-neue-stelle-in-aussicht%20zu%20haben
2) https://www.zeit.de/karriere/beruf/2016-04/fuehrung-arbeitnehmer-unzufrieden-umfrage?page=4  (die Studie ist leider auf der Website nicht mehr verfügbar, daher hier nur der Link auf die Sekundärquelle) 
3) https://www.wiwo.de/erfolg/beruf/gallup-studie-fuehrungskraefte-sind-der-wahre-produktivitaetskiller/19552634.html
4) https://www.academia.edu/24470439/Self_determination_theory_A_macrotheory_of_human_motivation_development_and_health